Montag, 7. Dezember 2015

Märchenhafte Zielgerade

Meine Leser scheinen sprachlos zu sein über den märchenhaften Selbstverwirklichungs-Trip des Herrn Schneider. Er ist ja wirklich schon weit gekommen mit seinem sieghaften Motto. Vier Situationen riesenhafter Überwältigungsbedrohung hat er gemeistert nachdem er den ersten "Berg" erklommen hatte und nun noch einmal eine Riesen-Überwindung im Reich des alles beherrschenden Verstandes-Königs, der nun vor unverständlichen Ereignissen steht und deshalb erst einmal seinen Vertrag mit dem neuen Helden nicht einhält.

Das Schneiderlein verlangte von dem König die versprochene Belohnung, den aber reute sein Versprechen, und er sann aufs neue, wie er sich den Helden vom Halse schaffen könnte.
»Ehe du meine Tochter und das halbe Reich erhältst«, sprach er zu ihm, »musst du noch eine Heldentat vollbringen. In dem Walde läuft ein Einhorn, das großen Schaden anrichtet. Das musst du erst einfangen.«
»Vor einem Einhorne fürchte ich mich noch weniger als vor zwei Riesen; siebene auf einen Streich, das ist meine Sache.« Er nahm sich einen Strick und eine Axt mit, ging hinaus in den Wald und hieß abermals die, welche ihm zugeordnet waren, außen warten. Er brauchte nicht lange zu suchen, das Einhorn kam bald daher und sprang geradezu auf den Schneider los, als wollte es ihn ohne Umstände aufspießen. »Sachte, sachte«, sprach er, »so geschwind geht das nicht«, blieb stehen und wartete, bis das Tier ganz nahe war, dann sprang er behendiglich hinter den Baum. Das Einhorn rannte mit aller Kraft gegen den Baum und spießte sein Horn so fest in den Stamm, dass es nicht Kraft genug hatte, es wieder herauszuziehen, und so war es gefangen. »Jetzt hab ich das Vöglein«, sagte der Schneider, kam hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick erst um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum, und als alles in Ordnung war, führte er das Tier ab und brachte es dem König
.

Ja, es gibt wirklich etwas in diesem Königreich, was es nicht gibt, was nur "fabuliert" ist wie dieses Fabelwesen Einhorn. Und da ist es wirklich gut, wenn man theoretisch gleich "Siebene auf einen Streich" erlegen könnte, denn es handelt sich um die Einbildungen,
die im Dickicht-Wald des Königs Verstand ihr Unwesen treiben. "Woran machst du das fest, was du dir da einbildest?" wäre die siegreiche Frage. Dann hat man die Illusion gefangen - anstatt sie einen - und ist einen Schritt auf der Entwicklungs-(Karriere-)Leiter weitergekommen.
Doch diesem Herrscher reicht das noch nicht, weil nämlich nicht sein kann, was nicht sein darf. Diesem Kerl, den er nicht einordnen kann, soll er wirklich seiner Tochter zum Gemahl und seinen Herrscher-bereich dazu???


Der König wollte ihm den verheißenen Lohn noch nicht gewähren und machte eine dritte Forderung. Der Schneider sollte ihm vor der Hochzeit erst ein Wildschwein fangen, das in dem Wald großen Schaden tat; die Jäger sollten ihm Beistand leisten.
»Gerne«, sprach der Schneider, »das ist ein Kinderspiel.«
Die Jäger nahm er nicht mit in den Wald, und sie waren's wohl zufrieden, denn das Wildschwein hatte sie schon mehrmals so empfangen, dass sie keine Lust hatten, ihm nachzustellen.
Als das Schwein den Schneider erblickte, lief es mit schäumendem Munde und wetzenden Zähnen auf ihn zu und wollte ihn zur Erde werfen. Der flüchtige Held aber sprang in eine Kapelle, die in der Nähe war, und gleich oben zum Fenster in einem Satze wieder hinaus. Das Schwein war hinter ihm hergelaufen, er aber hüpfte außen herum und schlug die Tür hinter ihm zu; da war das wütende Tier gefangen, das viel zu schwer und unbehilflich war, um zu dem Fenster hinauszuspringen. Das Schneiderlein rief die Jäger herbei, die mussten den Gefangenen mit eigenen Augen sehen.


Der Schneider lässt erkennen, dass er mit jeder gelösten Aufgabe fähiger wird und ihm alles immer leichter fällt.
Das wilde Schwein ist in der modernen Welt zu Schweinehündchen geschrumpft, das dennoch auch in unserem "Wald" großen Schaden anrichtet. Die Lösung, die der Märchenerzähler hier anbietet, ist absolut genial. Er greift zu einem religiösen Symbolbild, und da hat er Recht. Denn weder die strenge Dressur noch das nachsichtige Streicheln - schon gar nicht das "Töten des Drachens", wie es früher erschien - führen zur Meisterschaft über dieses Tierische, sondern man braucht die Anbindung an höhere Kräfte. Das kann "mein guter Geist, mein bessres Ich" sein, oder "der Gescheitere in mir" bis zur Erinnerung an begleitende Schutzengel und weitere höhere geistige Wesen. Re-ligio eben - Vorwärts-zurück zum Urvertrauen.
Ein Problem kann nie gelöst werden aus der Ebene heraus, auf der es erscheint, sondern immer nur aus einer höheren. Kann man das, ist man Herrscher im eigenen Reich. Das muss auch der Verstand einsehen.


Der Held aber begab sich zum Könige, der nun, er mochte wollen oder nicht, sein Versprechen halten musste und ihm seine Tochter und das halbe Königreich übergab. Hätte er gewusst, dass kein Kriegsheld, sondern ein Schneiderlein vor ihm stand, es wäre ihm noch mehr zu Herzen gegangen. Die Hochzeit ward also mit großer Pracht und kleiner Freude gehalten und aus einem Schneider ein König gemacht
.

Am Ziel angekommen wartet auf unseren Shooting-Star noch eine völlig unerwartete Prüfung:


Nach einiger Zeit hörte die junge Königin in der Nacht, wie ihr Gemahl im Traume sprach: »Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen.« Da merkte sie, in welcher Gasse der junge Herr geboren war, klagte am anderen Morgen ihrem Vater ihr Leid und bat, er möchte ihr von dem Manne helfen, der nichts anderes als ein Schneider wäre. Der König sprach ihr Trost zu und sagte: »Lass in der nächsten Nacht deine Schlafkammer offen, meine Diener sollen außen stehen und, wenn er eingeschlafen ist, hineingehen, ihn binden und auf ein Schiff tragen, das ihn in die weite Welt führt.«


Ist das zu fassen? Übertreibt der Märchenerzähler hier nicht ein wenig, wenn er das Königreich des Intellekts so betrügerisch und hinterhältig berechnend darstellt? Man muss nur seinen eigenen ein wenig beobachten, dann weiß man es. Doch:


Die Frau war damit zufrieden, des Königs Waffenträger aber, der alles mit angehört hatte, war dem jungen Herrn gewogen und hinterbrachte ihm den ganzen Anschlag.

Was ist das für ein geheimnisvolles Symbol "des Königs Waffenträger"? Wer trägt die Waffen des Verstandes? Eine echte Preisfrage!


»Dem Ding will ich einen Riegel vorschieben«, sagte das Schneiderlein. Abends legte es sich zu gewöhnlicher Zeit mit seiner Frau zu Bett. Als sie glaubte, er sei eingeschlafen, stand sie auf, öffnete die Tür und legte sich wieder. Das Schneiderlein, das sich nur stellte, als wenn es schliefe, fing an mit heller Stimme zu rufen: »Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen! Ich habe siebene mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein gefangen und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Kammer stehen!«
Als diese den Schneider also sprechen hörten, überkam sie eine große Furcht, sie liefen, als wenn das wilde Heer hinter ihnen wäre, und keiner wollte sich mehr an ihn wagen.


Man muss den Dienern des Königs Verstand - den Zweifel-Kriegern, den Skepsis-Räten, den "Du wirst schon sehen"- Haushofmeistern - nur immer wieder sagen, was Sache ist, wer man selbst ist und was man vermag. Man muss sich sein Lebens-Motto und Lebens-Ziel immer wieder bewusst machen. (Wohl dem, der's schon gefunden hat!)
Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König.
Was für eine Welt, in der einer regiert, der geschickt, kreativ und lösungsorientiert die Gedanken-Fäden zu händeln versteht, der souverän zuschneiden und anpassen kann (früher nannten das die Alchimisten "Solve et coagula - Löse und binde") und der auch noch richtig Maß nehmen kann!

Jede/r kann das in seiner Welt. Und da beginnt alles...

Wir müssen es jetzt nur dem Herrn Schneider genau nachmachen.
Dazu viel Glück und viel Segen!





7 Kommentare:

  1. ...jetzt verstehe ich noch besser, warum mich das tapfere Schneiderlein so belustigt und beeindruckt.
    Vielen Dank!

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  2. Ja, es hat diesen narrenhaften Ernst, der die perfekte Mischung aus Engagement und Gelassenheit ergibt. Wenn wir ihm folgen, wird Erfolg zur Sache der Folgsamen. Der Königs-Erfolg ist dann das S'ICH-Selbst-Folgen. -
    Haben Sie sich schon einen Visitenkarten-Gürtel geschneidert?

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  3. Und wer ist nun der Waffen Träger des Verstandes?
    Die achtsame Pfad des Buddha?
    Die Meditation?
    Der Glaube?
    Das Bewusstsein?
    Die Wachheit?

    Gedanken lösen und binden?
    Das Bild für das tapfere Schneiderlein.
    Schneidern? Da wird doch aus einzelnen Stücken etwas gestaltet und zusammen gefügt.

    Noch eine Frage.
    Für was steht denn das Wildschwein?
    Emotionen?
    Begierden?

    Diese müssen in der Kapelle geläutert werden?

    Warum bringt man sie nicht mehr um? Lässt sie leben?
    Weil ein Teil von uns selbst?

    Wie könnte man das z.B.dann auf so eine ausufernde Krankheit wie Krebs übertragen? Da wird ja der "eigene" Anteil noch vernichtet und getötet, oft mit der Konsequenz dass auch das restliche sogenannte gesunde Gewebe zerstört wird.

    ?
    Wie kann man denn das Märchen auf sowas übertragen?


    Muss man immer diese Visitenkarte vorzeigen? (Frage von dir an K.).
    Wem?
    Dieser Welt oder der geistigen Welt?
    Warum einen Gürtel?
    Gürtel deshalb weil wir uns es selbst auferlegen?
    Oder weil der Gürtel zwischen oben und unten sitzt? Zwischen Verstand und Fühlen?

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  4. Und wer ist nun der Waffen Träger des Verstandes?
    Die achtsame Pfad des Buddha?
    Die Meditation?
    Der Glaube?
    Das Bewusstsein?
    Die Wachheit?

    Gedanken lösen und binden?
    Das Bild für das tapfere Schneiderlein.
    Schneidern? Da wird doch aus einzelnen Stücken etwas gestaltet und zusammen gefügt.

    Noch eine Frage.
    Für was steht denn das Wildschwein?
    Emotionen?
    Begierden?

    Diese müssen in der Kapelle geläutert werden?

    Warum bringt man sie nicht mehr um? Lässt sie leben?
    Weil ein Teil von uns selbst?

    Wie könnte man das z.B.dann auf so eine ausufernde Krankheit wie Krebs übertragen? Da wird ja der "eigene" Anteil noch vernichtet und getötet, oft mit der Konsequenz dass auch das restliche sogenannte gesunde Gewebe zerstört wird.

    ?
    Wie kann man denn das Märchen auf sowas übertragen?


    Muss man immer diese Visitenkarte vorzeigen? (Frage von dir an K.).
    Wem?
    Dieser Welt oder der geistigen Welt?
    Warum einen Gürtel?
    Gürtel deshalb weil wir uns es selbst auferlegen?
    Oder weil der Gürtel zwischen oben und unten sitzt? Zwischen Verstand und Fühlen?

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    1. Ja, wirklich sehr werte Fragen.
      Zum Waffen-Träger: Was sind die Waffen, die Werkzeuge des K. Verstand? Wer trägt sie? Wer reicht sie ihm, wenn er sie braucht bzw. anfordert? Die Antworten darauf kennen nur "Geheimnisträger". Ich glaube, die Märchenerzähler waren solche. -
      Das Schwein hat zwei große Symbol-Linien: Die Unreinlichkeit ("Dreckschwein") und das Glück. Gefahrvoll wie es in unserem Märchen erscheint, kann es nur das erste sein. Heute heißt dieses verunreinigende eben "Schweinehund". Ganz recht: seine Anwandlungen brauchen eine Läuterung, um die Rückbindung (religio) an das wahre große Glück zu ermöglichen. -
      Da alle Krankheiten eine seelisch-geistige Entsprechung haben, kann man das Märchen auch auf das alles übertragen, ja. Beim Krebs ist es das Unmäßige im weitesten Sinn.

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  5. ...inspirierende Fragen. Gedanken dazu... Gürtel vielleicht weil er uns zusammenhält, und früher war er Ausdruck der Identität des Trägers. Die Visitenkarte evtl. weniger zum Vorzeigen für Andere, sondern quasi als innere Visitenkarte für uns selbst, als Orientierung für unsere inneren Anteile die konkurrieren. Um uns zu (er)kennen, unsere Fähigkeiten und Prägungen, unsere Werte und Überzeugungen, die für unseren Weg (zum inneren und äußeren Königtum) wesentlich sind.
    Manche Waffenträger des Verstandes können uns auch Probleme machen, rauben uns selbst die Energie, bringen uns möglicherweise vom authentischen Weg ab, wenn wir die innere Visitenkarte nicht klar vor Augen haben oder zwischendurch mal vergessen.
    Krankheit kann ein Hinweis darauf sein, und eine Chance, sich seiner Identität wieder klarer zu werden und sich in Resonanz zur inneren Visitenkarte neu auszurichten.

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    1. Das Großartige an dem (Visitenkarten)-Gürtel des Herrn Schneider finde ich, dass es ein Beispiel ist für einen "Slogan", der sowohl wahr ist als auch ein (großes) Ziel formuliert, und bei anderen Vorstellungen weckt, die das bewirken, was er möchte.
      Es würde mich interessieren, was ein PR-Fachmanndazu sagt.
      Wir Märchenleute haben schon mal ein wenig damit gespielt. Und da stand auf dem einen "Gürtel" WELTMEISTER (es war eine Frau). Auf einem anderen stand ICH HAB'S. Beides Schneider-like.
      Ich würde sooo gerne noch weitere Gürtel lesen...

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